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WERNER WIRSING 95

8. April 2014

einfach ww – kleingeschrieben …

… so könnte seine Selbstvorstellung beginnen. Sein Porträt zu zeichnen ist dagegen nicht so einfach.
Ein Versuch.

Der Raum im Umgang zwischen Menschen und mit dem Einzelnen gegenüber geht in der Tat aus einer zweifachen Verschiebung hervor: aus der Begegnung selbst, zugleich aber auch aus der Verschiebung des Ortes der Begegnung von dem wir immer nur partielle Ansichten aufnehmen, Augenblickseindrücke, die wir vielfältig im Gedächtnis speichern und dann in der Erinnerung buchstäblich wieder zusammensetzen wenn wir davon berichten, oder in der Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, die wir kommentiert erzählen. Die Begegnung  wiederum erzeugt eine fiktive Beziehung zwischen Menschen, in der das Einbezogensein und die Positionen des Zuhörers und Zuschauers den Rahmen bilden. So verstanden ist er in vielen Facetten mitten unter uns, er Werner Wirsing, der immer alles auf den Punkt zu bringen sucht: Sein Denken und sein Tun, in der Miniatur ebenso, wie in allem Großen, was diesem, seinem Denken und Tun entspringt.

Daran dachte ich, als ich mich an diesen Text wagte. Wie sollte ich bei solchen Vorgaben anfangen? Umständlichkeiten galt es in jedem Fall zu vermeiden, und ich entschied unter keinen Umständen Umstände zu machen. Und dennoch fiel es nicht leicht einfach anzufangen. Einfach ist eben ein Adverb, ein Umstandswort. Also geradeaus, geradewegs hinein in seinen Lebenslauf. Wie sonst könnte ich ihm gerecht werden?

Die Sprache ist wie die Architektur, man muss sie beherrschen, sagte Werner Wirsing einmal. Und darum ging es ihm, wohl wissend, dass diese Beherrschung für ihn nur über das Einfache, über die Urkraft des originären erreichbar war. Die Schwierigkeit des Einfachen besteht aber darin, dass es Leichtigkeit verlangt, wie etwa singen und tanzen, das war ihm immer bewusst, und es war sein ihm immanentes Ringen – vielleicht gar gegen sein ureigenes Wesen –  diese so erwünschte Leichtigkeit prägend für sein Tun zu erschließen. Das Einfache ist die Reduktion auf die Kraft des Wesentlichen.

Vielleicht hat sich das schon in seiner Kindheit im unterfränkischen Gemünden in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg verinnerlicht, als er von seinen Lieblingsplatz unter dem Schreibtisch seines Vaters dessen Sprache richterlicher Präzision belauschte: Dem Wesen der Dinge auf die Spur kommen. Weitergetragen hat sich dies gewiss mit dem Umzug nach München, von wo ihn ein Schulausflug mit dem Rad´l zur Weisenhofsiedlung nach Stuttgart führte, dorthin, wo er erstmals von der Kraft des Einfachen in der architektonischen Moderne erfuhr. Und nicht zuletzt war es dann die notwendige Verknappung der Sprache die vom ihm im zweiten Weltkrieg im Kriegseinsatz als Funker verlangt war. Und … dieses Denken spiegelt sich weiter auch in der für ihn typischen Reduktion seiner handschriftlichen Texte, die wie kaligraphisch-ornamental anmutende Schriftzeichenfolgen, nicht nur auf Großbuchstaben verzichteten, sondern in der im eigenen Bescheidenheit sich immer in Kürze fassen.

Nach dem unsäglichen Krieg studierte er, wie konnte es auch anders sein, Architektur in München. In der allgemeinen Notlage entwickelte er schon bei seinen allerersten Bauten kurz nach dem Studium ein ausgeprägtes Gefühl für soziale Zusammenhänge und für „arme“ Materialien. Bald gründete er mit anderen Kollegen das Baubüro des Bayerischen Jugendsozialwerks, das er bis 1954 leitete. Sein Studentenwohnheim am Massmannplatz in München (1948 – 51) mit seinen rhythmisierten Zeilenbauten und dem elegant aufgeständerten Verbindungstrakt gilt als Musterbeispiel jener karg-modernen Architektur der Nachkriegszeit. Seit 1955 hatte Wirsing dann sein eigenes Büro. Schlichte Elementarformen werden entwickelt, deren Basis eine Verknüpfung industrialisierter Bautechniken mit Vorstellungen sozialer Gemeinschaftlichkeit ist. Sie prägen fortan seine Projekte. Immer waren es langgestreckte einfache Pavillons, die sich aller formalen Auffälligkeiten enthielten und bald schon in der Natur aufgingen.  Als größtes Kompliment galt ihm die Feststellung, dass diese unaufdringlichen Wohnhüllen oder auch ein größeres Haus wie die in den Hang geschmiegte Bildungsstätte in Remscheid in ihrer formalen Reduktion und in ihrer Vorliebe für einfache Materialien die kargen Stilformen der späten neunziger Jahre auf verblüffende Weise vorwegnehmen.

Es ist bezeichnend für sein Werk, dass von den Großprojekten. die im Werkverzeichnis zu finden sind, am Ende keines verwirklicht wurde. Als 1966 München den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam und das von Werner Wirsing und Günther Eckert entworfene Olympische Dorf überarbeitet wurde, bekam er die Flachbauten zugeteilt. Die Wohn-, Schlaf- und Studierwürfel  sind als eine Art Gegenstück zum Gemeinschaftsprojekt am Maßmannplatz konzipierte. Die Gesamtanlage, bei der sich die einzelnen Würfel zu Straßen, Plätzen und einem kleinen Ort zusammenschließen, ist ein Musterbeispiel für das, was Le Corbusier einmal als die hohe Kunst des Zusammenspiels von einsam und gemeinsam bezeichnete. Er wird heute noch froh darüber sein, dass seine am Fuß der Hochhäuser locker gefügten, heiter verspielten als Studentenhäuser weitergedachten Bauten heute nach der Erneuerung zusammen mit Bogewischsbüro so vital und so begehrt sind wie am ersten Tag. Zwar weltweit bewundert, aber nirgendwo übertroffen hat er dort eindrucksvoll bewiesen, dass sich mit einem Minimum an materiellem und räumlichem Aufwand architektonische und stadträumliche Strukturen schaffen lassen, die den Bewohnern Raum zur Phantasie lassen.

Gebaut hat er natürlich eine Reihe von zahlreichen weiteren Bauten, Wohnhäusern für Studenten in München, Weihenstephan und Regensburg, aber auch Bildungsstätten wie das Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit Josefstal, ein Pfarrzentrum in Nürnberg, Seniorenwohnungen, Industrie- und Ausstellungsbauten und viele Einfamilienhäuser. Aber hier soll darauf nicht weiter eingegangen werden.

Häuser zu bauen bedeutet für Werner Wirsing immer die Übernahme von Verantwortung. Vielleicht drängt es ihn deshalb, sich gestalterisch mit – wie er es nannte  –  „nutzlosen Spielereien“ zu befassen. Oder – wir erinnern uns –  erspürte er etwa in diesem persönlichen Freiraum jene Leichtigkeit die im die Einfachheit erschloss. So werden Hühner-, Enten- und Gänseeier zum Zeichengrund, in welchen Form und Schale in wundervoller Weise verschmelzen, werden zum Jahreswechsel Faltwerke, Puzzles oder Textgefüge zum Rätseln erfunden, oder für die Weihnachtszeit tektonische Christbäume erdacht.

Selbstverständlich ist sein Wissen auch in der Lehre gefragt. So wurde er 1967 als  Dozent an die Hochschule für Gestaltung nach Ulm berufen, wo er bis 1970 lehrte. Folgte von 1974-1978 dem Ruf als Lehrbeauftragter an die  Akademie der Bildenden Künste München, und unterrichtete seit 1978 mehr als zwanzig Jahre an der Fachhochschule München, der heutigen Hochschule München, wo er 1991 zum Honorarprofessor ernannt wurde.

Seiner Leidenschaft als Architekt ist auch ein breites Engagement in ehrenamtlichen Tätigkeiten geschuldet. Sei es als Landesvorsitzender des BDA Bayern; als Vorsitzender im Werkbund Bayern, als Mitglied der Vertreterversammlung der Bayerischen Architektenkammer, als Vorstandsmitglied, Vorsitzender des Landeswettbewerbsausschusses, oder des Ausschusses für Berufsordnung, als Vorsitzender des Ausschusses für visuelle Gestaltung der olympischen Spiele 1972, als Mitglied der Stadtgestaltungskommission München, oder als Direktor der Abteilung Baukunst der Akademie der Künste in Berlin, um nur einige zu nennen. Auch seine jahrzehnte anhaltende kritische und ermunternde Mitwirkung in der Redaktion der BDA-Informationen soll hier nicht unerwähnt bleiben.

Dass vor diesem Hintergrund und seinem unermüdlichen Engagement für die Baukultur Auszeichnungen nicht ausblieben versteht sich von selbst. So waren es 1958 der Förderpreis für Architektur der Landeshauptstadt München, 1971 die Heinrich-Tessenow-Medaille der Fritz-Schumacher-Stiftung, 1975 den BDA-Preis des Landes Bayern, 1984 die Ernennung zum Ehrenmitglied des BDA Bayern und nicht zuletzt 2007 den Bayerischen Architekturpreis für sein vielfältiges Lebenswerk.

„Von Werner Wirsing reden, so sagte Winfried Nerdinger einmal, heißt vom sozialen und gesellschaftlichen Engagement reden und damit von etwas, das Grund und Rechtfertigung moderner Architektur in ihrer heroischen Entstehungszeit war, einer Zeit, als die Moderne keine formale Angelegenheit, sondern ein Anliegen war, ein moralisches, gesellschaftliches Anliegen …“

Es wäre ein Leichtes ihm zum Schluss noch mindestens 95 Attribute zuzuordnen, aber es wären lange nicht genug, um alle seine Facetten zu beschreiben. So bleiben wir wie begonnen beim Mensch Werner Wirsing, dessen Prädikat die Einfachheit ist, die sich immer erst am Ende zeigt, als Ziel zunächst, als Vollendung dann. Für mich heißt es, dass ich nun einfach aufhören kann, ohne etwas hinzufügen zu müssen, und ich hoffe es ist ein Bild Werner Wirsing entstanden ist, das zumindest so klar geschrieben ist, dass der Sinn des Lebens ausschließlich in den Leidenschaften und nirgends sonst liegt, das den Suchenden, den Anreger, den immer Geradlinigen, den Unermüdlichen, den Geschätzten über sein fünfundneunzigstes Lebensjahr hinaus weiter erhält.

Autor: Erwien Wachter